Engelstatue als Symbol des Leben

Das Leben ist tödlich

Von der Angst vor dem Tod und den möglichen Konsequenzen seiner Verleugnung

Einer mei­ner Freun­de sag­te ein­mal zu mir: “Das Leben ist eine sexu­ell über­trag­ba­re Krank­heit, die sicher mit dem Tod endet.” Ich habe über sei­nen Scherz gelacht, und gleich­zei­tig gedacht (auch wenn das Leben natür­lich kei­ne Krank­heit ist) erscheint sei­ne Aus­sa­ge rein logisch betrach­tet als rich­tig. Defi­ni­tiv ist das Leben töd­lich – denn es ist end­lich, und am Ende des Lebens steht der Tod. Oder wie Rai­ner Maria Ril­ke es in sei­nem “Schluss­stück” ausdrückte:

Der Tod ist groß.
Wir sind die Sei­nen
lachen­den Munds.
Wenn wir uns mit­ten im Leben mei­nen,
wagt er zu wei­nen
mit­ten in uns. 
Rai­ner Maria Rilke
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Ein Erklärungsversuch

Das ist nicht neu. Wir alle wis­sen es. Wir alle erle­ben es. Spä­te­stens dann, wenn ein von uns gelieb­ter Mensch aus dem Leben geris­sen wird, und eine Lücke hin­ter­lässt, die sich nie wie­der schließt. Wir alle wis­sen in unse­rem Her­zen, dass wir im Leben ange­sichts des Todes alle gleich sind, und alle das­sel­be Ende tei­len. Nichts davon hat sich geändert.

Aber gleich­zei­tig hat sich alles geän­dert – durch die Pan­de­mie, die die Welt in Schre­cken ver­setzt, und täg­lich die Nach­rich­ten füllt. Aber was genau hat das ver­än­dert? Ich stel­le mir die­se Fra­ge schon län­ger und ver­su­che hier nach Ant­wor­ten zu suchen. Die­se stel­len kei­ne Wahr­heit dar, son­dern mei­ne Hypo­the­se, die der ein oder ande­re tei­len mag – oder auch nicht.

Der ungeladene Gast

Ich habe den Ein­druck, was sich vor allem geän­dert hat, ist unser Blick auf den Tod. Man kann nicht sagen, dass er zuvor unser Freund war. Er bringt Schmerz und Leid, kommt unan­ge­mel­det und uner­war­tet als unge­la­de­ner Gast und nimmt sich, was er will.

Aber er schien Teil des Lebens und Schick­sals, zu sein, und wenn auch wider­wil­lig war er ein Bestand­teil des Lebens, der dazu gehört. Oder um es anders aus­zu­drücken, ohne den Tod gäbe es in unse­rer pola­ren Welt auch kein Leben. Und ange­sichts des Todes kann man das Leben mehr genie­ßen und schät­zen ler­nen. Denn kei­ner weiß, ob es nicht mor­gen schon vor­bei ist. Also lasst uns fei­ern – heute!

Den Tod tot schweigen

Wenn man den all­ge­mei­nen Trend in der Gesell­schaft in den letz­ten Jah­ren betrach­tet, scheint der Tod an Bedeu­tung zu ver­lie­ren. Nicht, dass er sel­te­ner zu Besuch kommt. Aber es wird anders über ihn gere­det. Am lieb­sten redet man eigent­lich gar nicht über ihn. Am lieb­sten schweigt man ihn tot.
Der Tod erscheint dadurch weit weg. Er betrifft ande­re, stellt kei­ne aku­te Gefahr dar, wirkt nicht als prä­sen­te Bedro­hung, ist für irgend­wen und irgend­wann, und gedank­lich sehr weit weg.

So hat auch das Altern, das uns den Tod näher bringt, und mehr ins Bewusst­sein ruft heut­zu­ta­ge einen wirk­lich üblen Ruf. Kei­ner will es. Man zurrt und spritzt es weg, ope­riert es um, retu­schiert es auf Fotos, trai­niert es ab, ent­fernt die Alten aus den Fir­men und schiebt sie aus den Häu­sern in Hei­me, wo sie unter sich sind und nicht in den Augen bren­nen. Natür­lich ist das sehr über­spitzt beschrie­ben, und vie­le sehen und leben es Gott sei Dank anders. Aber der Trend und Zeit­geist scheint in die­se Rich­tung zu gehen.

Die Welt als unsicherer Ort

Und dann Coro­na. Und seit­her klat­schen uns die Pres­se und die Nach­rich­ten­spre­cher täg­lich den Tod ins Gesicht. Die Zahl derer, für die alle Hoff­nung zu spät kommt flim­mert über den Bild­schirm, Lei­chen­ber­ge in Ber­ga­mo rufen Hor­ror­sze­na­ri­en in unse­ren Köp­fen her­vor, Trau­ern am Grab mit Ritu­al und Fei­er und Zeit für den Abschied wer­den ver­bo­ten, Kran­ke hin­ter Kran­ken­haus­mau­ern iso­liert – jeder stirbt für sich alleine!

Und das Bild des Gevat­ter Tod steht plötz­lich bedroh­lich über dem täg­li­chen Leben mit der Sen­se über dem Kopf erho­ben, bereit jeder­zeit nie­der­zu­fah­ren. Und die Welt wird zum unsi­che­ren Ort, in der wir uns nicht ver­ste­cken kön­nen, denn der Feind ist unsicht­bar, lau­ert über­all, und unse­re bes­ten Freun­de und gelieb­ten Men­schen wer­den zur poten­zi­el­len Bedro­hung unse­res Lebens, und wir für ihres, und zum Kom­pli­zen des Todes. Über­läu­fer sozusagen.

Nichts Neues unter der Sonne

Wobei auch die Unsi­cher­heit in der Welt nicht wirk­lich neu ist. Es gab auch vor Coro­na unzäh­li­ge Viren und ande­re Krank­heits­er­re­ger, die uns töten könn­ten. Und eine Viel­zahl davon ken­nen wir viel­leicht noch nicht ein­mal. Und alle Viren mutie­ren – stän­dig – denn das haben Viren als Schutz­me­cha­nis­mus ein­ge­baut. Eini­ge Viren, die so unter­wegs sind, sind unter Umstän­den sogar töd­li­cher als Coro­na. Und auch vor Coro­na konn­te man sich über ande­re Men­schen anste­cken. Und auch vor Coro­na gab es Tote – ca. 2580 täg­lich in Deutsch­land*. Nur hat über die nie­mand gespro­chen und berichtet.

Und wir haben ein Immun­sy­stem, das uns glück­li­cher­wei­se mit auf den Weg gege­ben wur­de, das uns schüt­zen kann und in den mei­sten Fäl­len brav und lei­se sei­ne Arbeit tut, ent­we­der eine Anste­ckung zu ver­hin­dern, oder zu hel­fen eine Krank­heit zu durch­le­ben. Aber eben in man­chen Fäl­len auch nicht. In man­chen Fäl­len ist die Zeit der Zei­ten da – die Stun­de des Todes.

Unsi­cher war schon immer, wann er kommt, der Tod. Viel­leicht heu­te, viel­leicht mor­gen, viel­leicht auch erst in 40 Jah­ren. Man­che tref­fen ihn jung und man­che hoch­be­tagt. Man­che gesund und fit, man­che gebrech­lich und krank. Alle mit dem­sel­ben Resul­tat, dass er uns mit­nimmt. Wohin das wis­sen wir nicht.

Die­se Unsi­cher­hei­ten gab es schon immer. Nur waren sie uns nicht so bewusst wie just in die­ser Zeit. Durch täg­lich beäng­sti­gen­de Nach­rich­ten, durch stei­gen­de Zah­len, Mas­sen­tests, durch Mas­ken wie Maul­kör­ben über dem Gesicht, durch Frem­de um uns her­um, die wir ohne Mas­ke nicht wie­der­erken­nen wür­den, durch den miss­traui­schen Blick auf den ande­ren, der Krank­heits­über­trä­ger sein könn­te, und durch den Man­gel an Ablen­kung, mit dem wir über Nacht kon­fron­tiert waren. Wer denkt schon an den Tod, wenn man lus­tig mit Freun­den beim Gril­len sitzt, mit Oma und Opa im Gar­ten spielt, ein Som­mer­fest fei­ert, sich im Kino berie­seln lässt oder einen fröh­li­chen Plausch mit dem Nach­barn wagt? Und wer hat­te schon Zeit über ihn nachzudenken?

Trennung und Verlust

Und nie­mand will mehr ins Kran­ken­haus, denn da könn­te man ster­ben. Und nie­mand will mehr ins Alten­heim, denn da könn­te man ster­ben. Und social distancing ist gut, denn es ver­hin­dert das Ster­ben – viel­leicht. Und zu den Eltern will auch nie­mand mehr, denn dann könn­ten die ster­ben. Und Omi und Opi erst. Und damit wird die Welt zum noch unsi­che­re­ren Ort – ein Ort der Iso­la­ti­on, des emo­tio­na­len Abstands, der Tren­nung der Fami­li­en, der Tren­nung der Mei­nun­gen, des Ver­lus­tes von Berüh­run­gen, des Ver­lus­tes der Spon­ta­ni­tät (“nein Schatz, du soll­test nicht ein­fach auf Oma zuren­nen und sie umar­men” , “kann ich mei­ne Freun­din jetzt umar­men, oder hat sie Angst und will das nicht?”.….).

Und plötz­lich ist das Leben wie in War­te­schlau­fe. Spä­ter kön­nen wir ja wie­der tan­zen und lachen und fei­ern und uns in die Arme fal­len: Wann? Ja, weiß nicht, irgend­wann – vielleicht.

Und der ein­zi­ge der tanzt ist der Tod – vor unse­rem inne­ren Auge. Und dann wird auf ein­mal der zum Haupt­ak­teur, den wir vor­her noch nicht ein­mal auf die Büh­ne las­sen woll­ten. Und wir sind den Umgang mit ihm nicht gewöhnt, weil er bis­her in der letz­ten Rei­he saß. Und die Schö­ne – das Leben – liegt im Dorn­rös­chen­schlaf wäh­rend der schein­ba­re Böse­wicht sei­nen Auf­tritt voll aus­zu­kos­ten scheint.

Mir scheint die Pola­ri­tät zwi­schen Tod und Leben hat sich einer­seits ver­schärft. Je mehr uns der Tod ins Gesicht springt, umso mehr hän­gen wir am Leben. Umso mehr fürch­ten wir den Ver­lust des Lebens. Umso weni­ger Zeit den­ken wir zu haben.
Ande­rer­seits ist es aber auch so, dass die Inten­si­tät des Lebens zu lei­den scheint. Mir kommt es ein wenig so vor, als sei das Leben in der War­te­schlan­ge, die sich erst wie­der wei­ter­zu­be­we­gen wagt, wenn der Tod wie­der verschwindet.

Aber wo soll er denn hin? Er kann sich ja nicht sel­ber töten. Er ist nun mal eine unaus­weich­li­che Kon­se­quenz des Lebens, an der kei­ner vor­bei­kommt. Er ist nun mal da. Er tut, was er tut, weil er es tun muss, und viel­leicht ist er ja auch ganz anders als wir ihn uns vorstellen.

Eine versteckte Chance?

Ich glau­be in all dem steckt eine ver­steck­te Chan­ce, den Ruf des Todes wie­der rein­zu­wa­schen, und das Leben zu reani­mie­ren. Nicht, dass ich mir oder irgend jemand ande­rem den Tod in irgend­ei­ner Wei­se wün­sche. Er macht Angst, der Tod, weil wir so wenig über ihn wis­sen, und unse­re Vor­stel­lung von ihm bewer­tend und viel­leicht ein­sei­tig ist, weil wir kei­nen Ein­blick haben. Und er schmerzt. Und es ist Arbeit, sich mit ihm anzu­freun­den. Und schwer.

Als Psy­cho­the­ra­peu­tin habe ich jedoch von man­chen mei­ner Klienten/innen gelernt, dass der Tod auch ganz ande­re Sei­ten haben kann. Dass er Mut macht, inten­si­ver zu leben, solan­ge das Leben währt. Dass er sich ver­än­dert, wenn man ihn akzep­tiert. Dass er auf­rüt­telt, und ein guter Rat­ge­ber sein kann, wie wir das Leben, das uns bleibt am bes­ten gestal­ten kön­nen. Und dass er manch­mal Geschen­ke der Sorg­lo­sig­keit, der Leben­dig­keit und der Hoff­nung über­reicht. Gera­de weil wir nicht wis­sen, wann er kommt. Und gera­de, weil er da ist.

Egal wie sehr sich die Gesell­schaft und wir uns wün­schen, er wür­de von der Bild­flä­che ver­schwin­den, und wie fort­schritt­lich die Medi­zin noch wer­den wird – der Tod lässt sich kein Schnipp­chen schla­gen. Wir kön­nen ihn aus­schlie­ßen, ver­schwei­gen, ver­mei­den und ver­leum­den. Das ist legi­tim. Mir scheint jedoch, dadurch wird sein Schat­ten nur grö­ßer und er wird zum Feind statt zum Beglei­ter, der viel­leicht auch den ein oder ande­ren Zau­ber­trick in der Tasche hat, und uns zu über­ra­schen weiß. Er hilft an die­sem unsi­che­ren Ort, an dem wir leben, Ver­trau­en zu üben, Dank­bar­keit zu emp­fin­den, Mut zu ler­nen und über uns selbst hin­aus­zu­wach­sen. Und dann ler­nen wir das Leben zu leben – Jetzt!

Quel­le: www.statista.de, Durch­schnitt 2015 – 2020

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