Stör mich nicht in meiner Krise!
Warum es sehr sinnvoll sein kann, Ihre Krise zu behalten und Sie sie gegenüber Lösungsangriffen von außen verteidigen sollten.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der mit Tipps nicht gespart wird, Optimierung gefördert bis verherrlicht wird und an vielen Ecken und Enden Anstrengungen erfolgen, das letzte bisschen Effektivitätssteigerung aus uns und allen Prozessen herauszupressen. Puh, ganz schön anstrengend, oder?
Ich gehöre auch zu dieser Gruppe der Gesellschaft. Schließlich betreibe ich unter anderem einen Blog mit Gesundheitstipps und verbreite Methoden und Strategien zur Förderung von körperlicher und mentaler Gesundheit. Im Grunde sind das auch ehrenwerte und hilfreiche Bemühungen, Anregungen und Angebote, gegen die nichts einzuwenden ist, denn letztendlich wählt jeder ohnehin für sich selbst, was und wie er oder sie das für sich umsetzen möchte – oder auch nicht.
Dennoch möchte ich hier einfach mal zu bedenken geben, dass es nicht immer sinnvoll ist, Tipps anzunehmen, Lösungen zu finden, sich zu optimieren oder zu verbessern oder das zu tun, was andere von uns erwarten. Häufig erwarten andere nämlich, dass wir unsere Krise oder unser Tief schnell überwinden und hinter uns lassen sollen.
Wenn es ideal läuft, stehen wir hinterher in strahlendem Superhero Anzug aufrecht im Sturm, strecken der nächsten Herausforderung unseren Brustpanzer und unsere Superkräfte entgegen und rufen jedem Monster entgegen „Komm doch her, wenn du dich traust“. Realitätsfremd? Hollywood? Vermutlich ein wenig von beidem. Doch diese verbale Übertreibung macht klar, wie unrealistisch es ist, was häufig von uns erwartet wird: Ständig rucki zucki aus jedem Tief wieder auf die Beine zu kommen, unsere negativen Gefühle unmittelbar zu überwinden, uns nicht so anzustellen und die A….backen zusammenzukneifen. Und zwar schnell!
Warum andere Sie in Ihrer Krise stören
Warum haben andere solche Erwartungen? Weil:
Das ist nur ein Auszug der vielen Möglichkeiten und wie Sie sehen, gibt es viele Gründe dafür, warum andere von uns erwarten könnten, dass wir unsere Krise schnell hinter uns lassen sollen.
Gute Gründe für eine Krise
Wir sind aber nicht auf Erden, um es anderen Menschen recht zu machen, oder uns im ewigen Eiertanz um jeden möglichen Fauxpas oder Zehentreter herumzuschlängeln. Das ist schlichtweg nicht möglich. Und wenn man das täte, würde man sich vermutlich mit der Zeit gar nicht mehr bewegen aus lauter Angst vor einem Fehltritt.
Es geht also nicht um die anderen. Es geht um Sie. Und Ihre Krise. Und darum, was diese Krise für Sie bedeutet, Ihnen sagen will, ins Ohr flüstert, Ihnen anbietet und was sie Sie durchleben und erfahren lassen will.
Es gibt mindestens genauso viele gute Gründe für eine Krise, wie es Gründe gibt, sie vermeiden zu wollen. Hier einige Ideen dazu. Eine Krise kann immer auch eine Chance in sich bergen. Wozu? Zum Beispiel zu:
Und, und, und. Diese Liste ist bei weitem nicht vollständig. Und natürlich definiert jeder den Sinn und Zweck einer Krise für sich selbst und jeder durchlebt sie anders. Meistens durchlebt man sogar eine aktuelle Krise anders als zuvor durchlebte Krisen. Ich möchte also behaupten, dass Krisen auch unsere Kreativität fördern können und uns dabei das ein oder andere Mal bereits eine Muse geküsst haben könnte.
Das Gute am Schlechten
Wir denken meistens in Kategorien von gut und schlecht und anderen Bewertungen dessen, was uns begegnet. Ich verstehe nicht ganz wozu, denn diese Bewertungen sind meiner Erfahrung nach nur selten hilfreich. Marshall B. Rosenberg (Begründer der Gewaltfreien Kommunikation) geht sogar noch weiter und sagt, unsere Urteile sind der Ursprung des Leids.
Es wäre also überhaupt nicht verwunderlich, wenn Sie denken, Krisen seien schlecht. Und auch verständlich, denn wir bringen Krisen mit „negativen“ Gefühlen in Verbindung wie Traurigkeit, Enttäuschung, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Verletzung usw. Wenn Sie sich jedoch für einen Moment einmal darauf einlassen, diese Gefühle nicht zu werten, könnten Sie sie einfach als Erfahrungen innerhalb des Spektrums unseres Menschseins betrachten. Ein Leben ohne diese Gefühle gibt es nicht. Jeder hat sie von Zeit zu Zeit. Jeder wird verletzt, enttäuscht, desillusioniert, leidet und durchlebt solche und ähnliche Gefühle. Das bedeutet also, dass es völlig normal und üblich ist, diese Gefühle zu durchleben.
Wenn Sie sich noch einen Schritt mehr auf mein kleines Gedankenexperiment einlassen können, könnten Sie darüber nachdenken, ob es wirklich diese Gefühle sind, die negativ sind? Oder macht unser Urteil über diese Gefühle sie erst negativ? Ist die Enttäuschung und die Traurigkeit das Negative – oder unsere Vorstellung und unsere Gedanken im Zusammenhang mit der Enttäuschung und der Traurigkeit? Oder sind vor allem unsere gedanklichen Rückschlüsse über diese Gefühle negativ? Wie zum Beispiel der Gedanke „ich wurde in der Liebe enttäuscht. Ich werde nie wieder lieben können.” Oder „dieser Mensch hat mich enttäuscht. Ich werde ihm/ihr nie wieder vertrauen können.” Es ist wahr, dass Sie enttäuscht wurden. Aber ob die Folge, die Sie erwarten, wahr ist, wissen Sie nicht.
Krisen sind ein völlig normaler Bestandteil jedes Lebens. Ich kenne niemanden, der noch nie eine erlebt hat. Wenn Sie jemanden kennen, ist er entweder noch zu jung, um bereits Krisen erlebt zu haben, oder Sie können ihm/ihr gratulieren, dass er sehr bald damit konfrontiert werden wird. Krisen sind kein Problem. Und deshalb brauchen Krisen auch keine Lösung. Krisen sind, was sie sind. Und sie sind, wozu Sie sie nutzen oder was Sie durch sie erleben und erfahren. Und das kann für jeden etwas anderes sein. Also wenn Sie die Krise schon unbedingt werten müssen, dann fragen Sie sich einmal, was das Gute am „Schlechten“ sein könnte.
Jeder hat ein Recht auf seine Krise
Sie haben also ein Recht auf Ihre Krise und sollten sie sich von niemandem schlechtreden oder wegnehmen lassen. Stattdessen könnten Sie neugierig sein, was sie in petto hat, sie einfach ausleben, sich darin suhlen, sich ein krisenhaftes Bett bereiten. Machen Sie es sich darin gemütlich, denn Sie kommen sowieso nicht darum herum. Und die Krise geht sowieso wieder vorbei. Wie Krisen das eben tun. Wie das alles andere auch tut. Auch das geht vorüber! Machen Sie das ruhig zu Ihrem Mantra, denn es stimmt.
Aushalten und durchleben statt wegmachen
Sie müssen also erst mal gar nichts tun. Sie werden die Krise aushalten, erfahren und durchleben. Und das können Sie. Denn das haben Sie schon einmal getan, nicht wahr? Außer Sie gehören zu den sehr wenigen Menschen, die sich auf ihre Krise noch freuen dürfen.
Sie sind jetzt hier! Sie atmen, denken, leben. Das heißt, Sie sind ein Krisenüberlebenskünstler! Ein Meister des Erfahrens und Durchlebens. Ich gratuliere! Und das meine ich kein bisschen ironisch. Denn um in diesem Moment anzukommen, haben Sie bereits unglaublich vieles geleistet und bewältigt.
Der vergessene Faktor Zeit
Vielleicht fragen Sie sich jetzt, wann die Krise vorbei sein wird? Eine berechtigte Frage. Aber leider eine Frage ohne Antwort. Weiß ich nicht. Wissen Sie nicht. Niemand weiß es. Sie ist vorbei, wenn sie vorbei ist. Und wenn sie vorbei ist, werden Sie es wissen.
Und wieso ist das wichtig? Mal ehrlich, was haben Sie Wichtigeres zu tun, als Ihr Leben zu führen, zu dem Krisen eben dazu gehören? Wir müssen es nehmen, wie es kommt. Ob es uns gefällt oder nicht. Niemand bestellt eine Krise wie den Pizza-Express. Meistens werden wir von ihrer Ankunft überrascht. Die Krise kommt unerwartet, uneingeladen, unerwünscht. Und dann ist sie da. Egal wie sehr Sie sich dagegen wehren, so ist es. Also überlegen Sie einmal, ob all Ihr Widerstand sinnvoll ist und etwas an Ihrer Krise ändert? Oder ob Sie damit vielleicht auch nur unnötig Energie verplempern?
Ich mache die Erfahrung in Coaching und Therapie, dass der Faktor Zeit von vielen Menschen außer Acht gelassen wird. Wir wollen alles und sofort. Wir weigern uns zu akzeptieren, dass viele Dinge ihre Zeit erfordern. Und dass manche Dinge nicht sofort gelöst oder verändert werden können. Dass manchmal die Zeit noch nicht reif ist. Und dass Geduld eine Tugend ist, die man trainieren muss wie alles andere auch.
Wir erwarten, dass Unangenehmes mirakulös verschwindet ohne unser Zutun. Die gute Nachricht ist, manchmal ist das tatsächlich so. Aber in der Regel benötigen Sie dazu Zeit. Wie viel? Keine Ahnung. So viel, wie nötig ist!
Alles hat seine Zeit
Was sagen die großen Bücher der Weisheit dazu? Die Bibel weiß „Alles hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde“ (Prediger 3,1). Und in diesem Kapitel werden nicht nur angenehme Dinge genannt. Da ist von geboren werden und sterben, töten und heilen, weinen und lachen, lieben und hassen, Streit und Frieden, suchen und verlieren u. v. m. die Rede.
Der Buddhismus sagt, dass alles Leben Leiden ist. Zeit wird als eine Illusion angesehen, die uns dazu verleitet, an Vorstellungen von Dauerhaftigkeit und Kontrolle festzuhalten. Und dass Einsicht in die wahre Natur der Zeit zur Befreiung von Leiden führen kann.
Ein bekanntes Zitat aus den Upanischaden (Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus), das sich auf die Zeit bezieht, lautet: „Vergangenheit ist Geschichte, Zukunft ist ein Geheimnis, aber jeder Augenblick ist ein Geschenk.” Wohlgemerkt jeder Augenblick, nicht nur krisenfreie Augenblicke ….
Im Koran wird das Thema Zeit auf verschiedene Weisen angesprochen. Eine der bekanntesten Stellen ist die Sure 103. In diesem Vers wird die Bedeutung der Zeit hervorgehoben. Es steht geschrieben, dass das menschliche Leben vergänglich und von Verlust geprägt ist, es sei denn, es wird auf eine Weise gelebt, die durch Glauben, gute Taten und gegenseitige Unterstützung in Wahrheit und Geduld gekennzeichnet ist [3]. Da haben wir sie wieder, die Geduld. Generell betont der Koran die Wichtigkeit der Zeit und mahnt die Menschen, ihre Lebenszeit sinnvoll zu nutzen.
Die griechischen Philosophen wussten, dass die Veränderung ein unumstößlicher Fakt des Lebens ist. Das bedeutet, alles ändert sich ständig, egal wie sehr wir an etwas festhalten wollen. Schönes vergeht, Momente können nicht anhalten, das Jetzt wird zur Vergangenheit. Und als logische Konsequenz auch Ihre Krise. In nicht zu ferner Zukunft wird sie Vergangenheit sein.
Der Maßstab der Zeit
Auch der Maßstab der Zeit wird häufig außer Acht gelassen. Was meine ich damit? Abhängig vom Zeitrahmen, in den Sie etwas stellen, verändert es unter Umständen völlig seinen Charakter.
Denken Sie einmal an eine vergangene Krise. Betrachten Sie sie dann aus Ihrem jetzigen Standpunkt. Sieht sie jetzt immer noch genauso aus wie damals, als Sie mittendrin steckten? Hat sie immer noch dieselbe Bedeutung für Sie? Oder ist es vielleicht sogar so, dass die damals katastrophale Krise im Rückblick ein echter Segen war?
Je nachdem, in welchen Zeitrahmen wir etwas stellen, nehmen wir eine Sache unter Umständen ganz anders wahr. Vielleicht stecken Sie jetzt gerade in einer Krise? Dann überlegen Sie einmal, welche Bedeutung diese noch haben wird, wenn Sie siebzig Jahre alt sein werden und zurückblicken?
Was jetzt also „schlecht” ist, kann in ein oder zwei Jahren „gut” sein. Abhängig vom Maßstab der Zeit, den Sie anlegen. Deshalb ist das Werten einer Krise ausschließlich aus Ihrem jetzigen Blickpunkt heraus vermutlich nicht sinnvoll. Einfach mal abwarten und dann noch mal betrachten.
Szenen einer Krise
Ich will das einmal an einem persönlichen Beispiel für Sie in den Kontext stellen. Vor ein paar Monaten hatte ich eine Krise. Was der Auslöser war, weiß ich nicht. Vielleicht war es eine Lebensphasenübergangskrise, bedingt durch die Menopause. Ein anderer Aspekt war vielleicht eine meine-Beziehung-verändert-sich-und-ich-weiß-noch-nicht-ob-mir-das-gefällt Krise. Oder vielleicht ich-verändere-mich-und-ich-weiß-noch-nicht-ob-mir-das-gefällt Tendenzen. Oder vielleicht hat es auch eine Rolle gespielt, dass mir klar wurde, dass meine Kindheit teilweise traumatisch war und ich das vorher nicht so richtig realisiert habe.
Die Krise war schrecklich, denn
Und die Krise war herrlich, denn
Und dann eines Tages bin ich aufgewacht, habe mich leicht gefühlt, meine Fröhlichkeit kam zurück und ich war durch mit meiner Krise. Wodurch? Weiß ich nicht genau. Ist mir auch ziemlich gleichgültig, denn ich fühle mich seither wohler, leichter, mehr im Flow, glücklicher und energetischer als vorher. Also war die Krise “schlecht” oder “gut”? Beides, oder abwechselnd “gut” und “schlecht, oder auch keins von beidem. Sie war, was sie war. Und jetzt ist sie nicht mehr. Jetzt bin ich im Hoch. Und genieße das bewusst, so oft ich kann.
Ist Helfen zwecklos?
Ich als systemische Therapeutin, Traumatherapeutin und Coach proklamiere hier also, dass die Krise vorbeigeht. Einfach so. Heißt das jetzt, dass Helfen und sich helfen lassen zwecklos ist?
Die Antwort ist nicht eindeutig. Sie müssen durch Ihre Krise durch – alleine – und das schaffen Sie auch, denn das haben Sie bisher auch geschafft. Und es ist Ihre Verantwortung und nicht die eines Coachs oder Therapeuten, oder sonst irgendjemandem.
Das bedeutet aber nicht, dass Sie sich keine Unterstützung holen können. Das tun wir sowieso intuitiv. Zum Beispiel durch Innehalten, Stille, Freunde, Partner:innen, Abstand, die Natur, Bücher, Erfahrungen, Wissen etc. Oder eben über einen Coach oder Therapeuten:in.
Der Vorteil eines systemischen Coachs oder Therapeuten:in ist, dass sie:
Anmerkung: Diese Punkte basieren auf der systemischen Grundhaltung und sind nicht automatisch zutreffend für andere psychotherapeutische oder Coaching Verfahren.
Viele Menschen finden diese Punkte hilfreich und sie können sich dadurch Erleichterung verschaffen, Erkenntnisse gewinnen, ihre Sichtweise ändern oder leichter zu ihren eigenen Entscheidungen kommen etc. Das entscheidet jedoch jeder für sich und auch ohne professionelle Hilfe ist es möglich, Krisen zu überwinden. Sonst wäre die Menschheit bereits ausgestorben.
Veränderung passiert von ganz alleine
Ihre Krise wie alles andere in Ihrem Leben wird sich verändern. Sie ist nicht für immer hier. Sie sind nicht für immer hier. Nichts ist für immer hier. Und alles ist veränderlich – ständig. Und diese Veränderung passiert von ganz alleine. Ihre Krise wird sich verändern. Sie werden sich verändern. Und wenn Sie mutig sind, umarmen Sie Ihre Krise und lassen sie Sie verändern. #weilSieeswertsind
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